Thomas Manns Zauberberg erzählt den siebenjährigen Aufenthalt Hans Castorps, der Hauptfigur des Romans, in einem Sanatorium in Davos in der Schweiz. Während seines eintönigen Lebens oben auf dem Berg verliert Castorp den Zeitsinn: Am Ende des Romans weiß er nicht mehr, wie alt er ist. Er kann nicht mehr zwischen „Einst“ und „Jetzt“ unterscheiden. Der Roman berichtet einerseits Castorps Kur im Sanatorium in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und macht andererseits die Zeit selbst zum Gegenstand. Über die Zeit sprechen nicht nur die Figuren, sondern auch der Erzähler des Romans.
In der Forschung wurde schon darauf hingewiesen, dass die Erörterung der Zeit im Roman auf der Metaphysik von Schopenhauer und Nietzsche basiert. Die vorliegende Abhandlung versucht, das Zeitverständnis im Zauberberg mit den Zeitbegriffen der beiden Philosophen zu vergleichen und die Unterschiede zu ihnen zu zeigen, um so das Charakteristische des Zeitverständnisses im Zauberberg zu verdeutlichen. Dabei zieht sie auch das Vorspiel „Höllenfahr“t zu der Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder in Betracht, in dem über die mythische Zeit gesprochen wird.
Wenn man im Krankenhaus eine ganze Reihe von Tagen im Bett verbringt, vergeht die Zeit am Ende sehr schnell. Ein Tag ist wie der andere. Der Erzähler spricht von einem „stehenden Jetz“t oder „nunc stan“s . Diese Wörter sind aus Schopenhauers Schriften entlehnt, aber wenn man genau hinsieht, gibt es zwischen dem Zeitverständnis im Zauberberg und Schopenhauers Zeitbegriff einen entscheidenden Unterschied: Hans Castorps psychischer Zeitsinn kennt nicht den metaphysischen Blick des Philosophen.
Hans Castorp stellt sich den Wechsel der Jahreszeiten als zyklische Wiederkehr des Gleichen vor, was es nahelegt, den Zusammenhang mit Nietzsches Lehre von der Wiederkehr des Gleichen zu betrachten. In dem Gespräch mit dem Zwerg am Torweg, wo sich die zwei Wege Vergangenheit und Zukunft treffen, macht Zarathustra ihn auf den „Augenblick“ aufmerksam. Im Augenblick stehend übernimmt Zarathustra die Vergangenheit und handelt in die Zukunft hinein, während der Zwerg am Wegrand nur Zuschauer bleibt. – Auch Castorp sieht in dem monotonen Leben auf dem Zauberberg dem Kreislauf der Zeit zu und weiß nichts über den „Augenblick“ in Nietzsches Sinn.
Im „Höllenfahr“t -Vorspiel spricht der Erzähler von der Wiederholung ähnlicher Ereignisse wie der Sintflut, wodurch er ihre Bedeutung als einmaliges himmlisches Gericht verwischt. An dem Zeitverständnis, das Thomas Mann im Zauberberg entfaltet, lässt sich ein wesentliches Merkmal seines Gesamtwerkes ablesen: Das Transzendente bzw. Metaphysische wird ins Psychologische übersetzt.