Yoko Tawadas Roman Das nackte Auge (2004) besteht aus dreizehn Kapiteln, wobei jedes Kapitel nach einem Film mit der französischen Schauspielerin Catherine Deneuve benannt ist. In den Kapiteln 1 bis 12 wird die Geschichte einer jungen Vietnamesin erzählt. Als Schülerin wird sie 1988 nach Ost-Berlin eingeladen, wo sie von einem Westdeutschen entführt und nach Bochum gebracht wird. Sie reist weiter nach Paris, wo sie schließlich zehn Jahre lang bleibt, ohne Französisch zu lernen. Als illegale Einwanderin flieht sie vor der Polizei ins Kino und sieht sich immer wieder zwölf Filme an, in denen Deneuve mitspielt. In dieser Geschichte geht es in erster Linie um „Reisen aus der Muttersprache heraus“. In der fremdsprachlichen Umgebung erscheint der Vietnamesin die Muttersprache zunehmend verfremdet. Unwillkürlich befreit sie sich von ihrer Muttersprache und darüber hinaus von den Bedeutungen, die ihre Muttersprache ihr auferlegt. So steht sie völlig „nackt“, d.h. ohne Vorurteile, vor der Welt. Indem sie ihr Verhältnis zu ihrer Muttersprache ändert, ändert sie auch sich selbst. Aus diesem Grund trägt sie immer wieder andere Namen.
Im Laufe der Zeit lernt sie „die Sprache des Films“, die visuellen und kinetischen Zeichen. In ihrem Kopf entsteht allmählich eine fiktive Geschichte aus zwölf Filmen, die nicht miteinander verbunden sind. Darin verschmilzt Deneuve, die in jedem Film eine andere Rolle spielt und anders genannt wird, zu einer einzigen fiktiven Figur. Im letzten Kapitel wird die Erzählperspektive plötzlich gewechselt: Die Vietnamesin als Ich-Erzählerin verschwindet und eine neue Geschichte, die von der „Dame mit dem Hündchen“ handelt, wird in der dritten Person erzählt. Die Dame war 1988 in Berlin in einen Überfall einer Gruppe Jugendlicher auf ein ausländisches Mädchen verwickelt. Dabei kam das Mädchen ums Leben, während die Dame erblindete. Es liegt nun die Vermutung nahe, dass nicht die Vietnamesin die Filme anschaut, sondern die Dame, und dass sie die fiktive Lebensgeschichte der Verstorbenen erzählt, indem sie sie aus den Filmen rekonstruiert.
Die blinde Frau behauptet, obwohl sie außer dem Hündchen immer unbegleitet ist, dass ihre Freundin im Kino die Bilder in die Fingersprache übersetze und die Geschichte umschreibe. Tawadas Poetik der „Exophonie“, die Sprache von der festen Bedeutung zu befreien und sie wieder zu beleben, ist in ihrem Werk oft als Übersetzungsverfahren dargestellt. Die „Übersetzerin“ in Das nackte Auge ist wohl selbst eine neue Sprache, und sie erfindet immer neue Geschichten, wie Tawada in einem Interview mit Lerke von Saalfeld (1998) erläutert: „Für mich persönlich war das wie eine Reise oder ein Abenteuer, in einer anderen Sprache zu schreiben, weil ich beim Schreiben nie genau weiß, wer eigentlich schreibt, ob ich schreibe, oder die Sprache.“