Um der Verführung, die ihr, die „so warmes Blut“ und „Sinne“ habe, unwiderstehlich sein könnte, zu entkommen, um sich „von der Schande zu retten“, reizte Emilia den Vater dazu auf, „eine Rose zu brechen, ehe der Sturm sie entblättert.“ Ob es sich dabei um den Sieg der Tugend oder um die moralische, politische Kapitulation handelt --- die vielschichtige Debatte darüber dauert an. Ich halte Lessings Stück für ein Rachedrama, eine Tragödie der Rache der Machtlosen an der Macht. Als der Vater sagte: „Denke nur: unter dem Vorwande einer gerichtlichen Untersuchung, – o des höllischen Gaukelspieles! – reißt er(der Prinz) dich aus unsern Armen, und bringt dich zur Grimaldi.“, hat Emilia erwidert: „Will mich reißen; will mich bringen: will! will! – Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater!“ Sie protestiert damit gegen die Ignorierung ihrer Menschenrechte von Seiten der Machthaber. Um ihren eigenen Willen durchzusetzen, um sich vor den Gelüsten des Prinzen zu bewahren, kann aber ein wehrloses Mädchen nichts anderes tun, als ihren schönen Leib, den er so heiß begehrt, zu zerstören. Ihr Vater hat im Monolog gesagt: „Deine(Appianis) Sache wird ein ganz anderer zu seiner machen! Genug für mich, wenn dein Mörder die Frucht seines Verbrechens nicht genießt. – Dies martere ihn mehr, als das Verbrechen! (…) In jedem Traume führe der blutige Bräutigam ihm die Braut vor das Bette; und wann er dennoch den wollüstigen Arm nach ihr ausstreckt: so höre er plötzlich das Hohngelächter der Hölle, und erwache!“ (E.5.2) Der Satz „Deine Sache wird ein ganz anderer zu seiner machen!“ verweist auf die Bibelstelle: „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr“ (Röm. 12,19). Aber die zweite Hälfte des Monologs ist nichts anderes als Fluch und Racheerklärung gegen den Prinzen und stimmt mit den Worten des Vaters in der Schlussszene vor der Leiche seiner Tochter überein: „Nun da, Prinz! Gefällt sie Ihnen noch? Reizt sie noch Ihre Lüste? Noch, in diesem Blute, das wider Sie um Rache schreiet?“ Die Dynamik der Tragödie entsteht weder aus der Idee, noch aus dem Ideal, noch aus der Moral, sondern aus der Leidenschaft jenseits von Gut und Böse. Aber der edelmütige Lessing, der sieben Jahre später „Nathan der Weise“ verfassen wird, verdammt die Rachesucht. Er erlaubt sich, den Vater von Rache sprechen zu lassen, aber die fromme Heldin tut es nicht. Die innere Spaltung Lessings macht den 5. Aufzug doppelbödig. Man darf annehmen, dass der Vater, der den Freitodwunsch seiner Tochter an ihrer Statt ausführt, auch das Wort der Tochter führt. Rächt Emilia nicht sich und ihren gemeuchelten Bräutigam an dem Frevler, indem sie den in des Verbrechers Territorium gefangenen Schatz, sich selbst, vernichtet? Defensiv, aber zugleich aggressiv. Tragisch ist, dass das zu zerstörende Kleinod in des Gauners Hand ihr eigenes Leben ist. Aber welche andere Attacke auf die absolute Macht ist für die Machtlose möglich, als eine so traurige, absurde Rache zu verüben? Groll und Trauer, die den Dolchstoß ins Herz der Jungfrau begleiten, haben die vornehmen Zuschauer im Hoftheater wohl nicht unbewegt gelassen.