Die vorliegende Abhandlung befasst sich mit der Beziehung zwischen der Protagonistin Josefine und dem Mäusevolk in Kafkas Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse (1924).
Die traditionelle Forschung hat das Mäusevolk oft mit dem jüdischen Volk in Verbindung gebracht. Das liegt zum einen daran, dass es in der Erzählung mehrere Ausdrücke gibt, die auf die Situation des jüdischen Volkes anspielen, und zum anderen daran, dass viele antisemitische Diskurse aus Kafkas Zeit enthalten sind.
In dieser Arbeit geht es jedoch nicht darum, das Volk mit den realen Juden in Beziehung zu setzen, sondern zu argumentieren, dass es den Menschen Kafka mit seinen Lebensbedürfnissen darstellt, der den „schreibenden“ Kafka physisch unterstützt, während umgekehrt dieser jenen geistig unterstützt. Die in der Erzählung enthaltenen antisemitische Diskurse sind darauf zurückzuführen, dass Kafka, der ein starkes Schuldbewusstsein und eine Tendenz zur Selbsterniedrigung hatte, dies zu einer Art Selbstdarstellung nutzte. Der Grund für Kafkas Entscheidung für eine weibliche Protagonistin dürfte auch in der Rezeption antisemitischer und misogyner Diskurse Otto Weiningers liegen. Anstatt sich gegen diese diskriminierenden Diskurse aufzulehnen, nutzte Kafka sie umgekehrt, um sich selbst auszudrücken.
Josefine fordert Verständnis und Bewunderung für ihre Kunst, aber der Erzähler, ein Mitglied des Mäusevolks, zweifelt an ihrer Kunstfertigkeit: „Ist das überhaupt Gesang?“ Hier kommen sowohl Kafkas hohe Ansprüche als auch starke Zweifel an seiner eigenen Literatur auf ambivalente Weise zum Ausdruck. Die Beziehung zwischen dem Volk der Mäuse und der Sängerin ist keine Beziehung zwischen einer Gemeinschaft und einem Individuum, vielmehr kommen hier zwei verschiedene Aspekte eines einzigen Subjekts zum Ausdruck.