In der Holocaust-Literatur, die fast aus den nonfiktiven Memoiren der KZ- überlebenden Juden und den gewissenhaften Werken der deutschen Schriftsteller der Söhnegeneration besteht, die dem Verbrechen der Väter gegenüberstehen, nimmt Edgar Hilsenraths „Der Nazi & der Friseur“ eine Ausnahmeposition ein. Obwohl der Autor ein gerettetes jüdisches Opfer ist, ist dessen Hauptfigur, Ich-Erzähler und Perspektive-Person Max Schulz ein arischer Täter, SS-Mann, Massenmörder, der nach dem Krieg zum Überleben seine Identität mit einem Juden wechselt und die Goldzähne, die den im Lager Ermordeten geraubt worden sind, verkauft, um ein neues Leben anzufangen.
Hier behandle ich hauptsächlich das Goldzähne- und Identitätwechsel-Motiv von dem Roman, indem dabei zwei Novellen Bölls, „In der Finsternis“ und „Todesursache: Hakennase“, zum Vergleich herangezogen werden. In der ersteren wird ein Soldat, der Nachtposten gestanden hat und in der Finsternis den gefallenen Russen die Goldzähne zog, von den Kameraden auf der Tat ertappt und hingerichtet. In der letzteren wird ein Nichtjude, der wegen der „Hakennase“, des angeblich jüdischen Merkmals, als Jude gilt, ermordet, was vom Militärarzt einfach mit „Todesursache, na Hakennase“ erledigt wird. Dessen Augen- und Ohrenzeuge, ein deutscher Leutnant, wird davon schockiert und verfällt dem Wahnsinn. Die beiden Erzählungen beweisen die bürgerliche Moral und den Humanismus Bölls.
Hilsenraths Hauptfigur Max Schulz aber hat die Goldzähne von den ermordeten Juden nicht nur verkauft, um die Grundlage für ein „anständiges, ordentliches Leben“ zu schaffen, sondern sogar einige „für Eigengebrauch“ einschmelzen und „einen Mund voller Goldzähne“ machen lassen, daß das Gold glänzen solle, wenn er lache.
Das unheimlich groteske Strahlen aus Maxens Mund wird von keinem Akkublitz der Gerechtigkeit übertroffen, während bei Böll das Feuer der Hinrichtungspistole die Finsternis, wenn auch nur augenblicklich, durchleuchtet.
In der Tradition, in der das Verwechseln des Juden, besonders das mit dem Juden, zur Katastrophe führt, wie in Lessings „Die Juden“, Frisches „Andorra“ und Bölls „Todesursache: Hakennase“, ereignet es sich wohl zum ersten Mal in „Der Nazi & der Friseur“, daß sich ein Nichtjude als Jude ausgibt. Dabei handelt es sich um einen ehemaligen SS-Mann, einen Massenmörder, der sich vor der Verfolgung in der Nachkriegszeit am besten gesichert sieht, indem man ihn für einen Juden hält. Dank dem häßlichen Judenbild, das in der Nazizeit verbreitet worden ist, gelingt ihm das, denn Max Schulz, der rein Arische, sieht genau wie dieses Judenzerrbild aus, was ihn vor und in der Kriegszeit gequält hat und jetzt ihm sehr willkommen ist. Bis dahin wäre der Roman nur eine Satire.
Max verwandelt sich aber nicht in einen beliebigen Juden, sondern in einen besonderen, der sein bester Freund aus der Jugend und der Sohn seines Wohltäters war, den er im KZ mit den ihm gütigen Eltern zusammen ermordet hat.
Dann fährt er nach Palästina, weil „in der Höhle des Löwen“ ihn niemand suchen wird. Er heiratet eine KZ-überlebende Jüdin und eröffnet den Friseursalon, der wie einst der seines jüdischen wohltätigen Meisters, den er ermordet hat, „Der Herr von Welt“ heißt.
Bei Hilsenrath könnte man von dem deformierenden Hohlspiegel-Realismus sprechen, dessen verfremdete, übertriebene Bilder realer, effektiver wirken.
Diese unglaublich freche, groteske Geschichte „Der Nazi & der Friseur“, in der Moral, Humanität, Gerechtigkeit(wie von Böll) alle ungültig geworden sind, spiegelt nicht nur die Kriegszeit, sondern auch die Nachkriegswelt treu, in der große Männer der Nazizeit „unbescholten hohe Ämter bekleiden“, „ihren Besitz vermehren“ und „in den Werken fortwirken, in denen die Häftlinge von damals verbraucht wurden“(cf. Peter Weiss: „Die Ermittlung“).