Sophokles’ Oedipus der Tyrann ist als eine Tragödie zu lesen, in der es um das menschliche Reden geht: Wenn Oedipus unter Berufung auf das Orakel befiehlt, den Mörder des Exkönigs zu finden, redet er als König (aufgrund seines Königtums), um seine königliche Pflicht zu erfüllen und sich als König und gerechten Redner nachträglich zu rechtfertigen. In dieser logischen Zirkelstruktur um das Königtum und Reden aber wird schließlich die eigentliche Grundlosigkeit von Oedipus’ Königtum entdeckt, da er sich selbst als der Täter zeigen wird. Der Held scheitert tragisch. Diese Oedipus-Interpretation, die die Bedeutung von „Reden“ hervorhebt, widerspricht nicht der Hölderlins. Denn dieser richtet sein Interesse weniger darauf, was Gerechtigkeit überhaupt ist, was Wahrheit und was Schuld des Helden sind, als darauf, wie die Charaktere der Tragödie als Sterbliche reden können und müssen. Diese Tendenz der Interpretation spiegelt sich auch in Hölderlins Verständnis vom Chor in der Tragödie deutlich wider.
Wird das Moment vom „Reden“ in den Mittelpunkt der Auslegung gestellt, lässt sich auch der Begriff „Schicksal“ neu bewerten. Er bedeutet dann nicht mehr die Notwendigkeit in deterministischem Sinne, dass etwas Menschlich-Geschichtliches von übermenschlichen Wesen im Vorhinein entschieden wäre, sondern vielmehr, dass die Menschen über etwas noch nicht Entschiedenes zu Unrecht so reden müssen, als ob es schon bestimmt sei, um ihrer Rede und ihrem Reden Überzeugungskraft zu verleihen. Das menschliche Reden kann aber wegen der geschichtlichen Beschränktheit der Menschheit den Glauben an die Bestimmtheit weder begründen noch davon überzeugen, und so gerät der Redner in eine Sackgasse und scheitert. Das Schicksal ist nun also gewissermaßen ein rhetorisch-existenzieller Begriff und stammt aus dem wesentlichen menschlichen Willen zur (Selbst-)Überzeugung. Die Menschen reden von Schicksal, um der Welt und Geschichte sowie dem darin lebenden Selbst eine Bedeutung beizulegen, doch eben in diesem Willen wird der Raum des Schicksals und der Tragödie eröffnet.
Die Probleme ums „Reden“ ergreifen selbstreferenziell Besitz auch von dem über das Reden Redenden, d.h. Hölderlin und uns. In der Tat nimmt der Dichter selber solch eine Rhetorik in Anspruch, mit der er das Scheitern des Helden überzeugend beschreiben und begründen will. Hölderlin wird in das gleiche Schicksal wie Oedipus verwickelt und ist gefangen in dem rhetorischen Mechanismus, in dem die Menschen redend den eigentlich fehlenden Grund des Redens immer ohne Erfolg suchen.
Es ist keine neue Tragödienlehre, die aus Hölderlins Texten über die Tragödie geschlossen werden könnte. Sie zeigen vielmehr die Probleme um das menschliche Reden von der Tragödie und um den davon Redenden. Es geht nun darum, wie von der Tragödie geredet wird, nicht was. Wir Redner sollen nicht nur die Betrachter der Tragödie, sondern auch die Gegenstände der Betrachtung sein.