In der Filmkunst kӧnnen Menschen und Gesellschaft als Ganzes aus der Perspektive des Filmproduzenten auf der Leinwand erscheinen. Ralf Huettner übt in seinem Werk Vincent will Meer (2010) offensichtlich Gesellschaftskritik aus und bietet zugleich auch ein utopisches Ersatzmodell an.
Der Titelheld Vincent ist 27 Jahre alt. Er leidet schon lange unter dem Tourette-Syndrom. Es ist manchmal unmӧglich für ihn, sich in Sprache und Benehmen in der Öffentlichkeit zu beherrschen. Darum lebt er mit seiner Mutter, die aufgrund einer unglücklichen Ehe zur Alkoholikerin geworden ist, einsam zu Hause. Nach dem Tod seiner Mutter bringt Vincents Vater Robert ihn sofort in ein Pflegeheim. Er ist Lokalpolitiker, der gerade im Wahlkampf steht und alle negativen Schlagzeilen vermeiden will. Vincent lernt dort die Magersüchtige Marie und den Zwangsneurotiker Alex kennen. Dieses Trio von psychisch Behinderten stiehlt eines Nachts das Auto ihrer Therapeutin Rose und macht sich auf den Weg nach Italien. Es zieht vor allem Vincent mit der Asche seiner verstorbenen Mutter in einer Bonbondose nach Italien, um ihr den letzten Wunsch zu erfüllen, noch einmal das Meer zu sehen. Sie war früher mit ihrem Mann am Meer einmal sehr glücklich, was ein altes Foto der lächelnden Frau auf der Hochzeitsreise beweist. Nach dem Hotel San Vincente, wo das frisch verheiratete Ehepaar damals übernachtete, benannten sie schließlich ihren einzigen Sohn. Dieser ist nun mit dem Foto seiner Mutter in der Hosentasche auf der Reise. Das Reiseziel ist aber wirklich nicht geographisch zu bestimmen. Vincent sucht unbewusst nach einem mӧglichen Zusammensein mit seinen Mitmenschen. Und er versӧhnt sich tatsächlich am Strand mit seinem Vater, der mit der Therapeutin Rose im Auto diesem Trio nachgefahren war.
Inwiefern ist es jedoch diesem schüchternen Antihelden mӧglich, der sich gern vom menschlichen Umgang fernhält, mit seinem starrköpfigen Vater zusammen zu sein? Er muss von der sozialen Realität ausgesperrt bleiben, solange diese als solche unverändert besteht. Es lohnt sich jedoch hier zu fragen, ob ihm ein anderer Ausblick auf die Gesellschaft möglich wird, wenn diese sich umformt. Seelische Krankheiten sind bekanntlich in ihrem Aufkommen teilweise mit dem Streß des Soziallebens untrennbar verbunden. Die Problematik der Gesellschaftsstruktur kommt also in diesen Krankheiten konzentriert zum Ausdruck. Das heißt, dass bei psychischen Stӧrungen vermutlich die revolutionären Momente zur Lӧsung der sozialen Problematik zu finden sind.
Das Team von Huettner ließ sich vor den Dreharbeiten von Medizinern beraten, um sich die Informationen über die Realität der Krankheiten zu beschaffen. Die Filmcrew nimmt psychische Behinderung also ernst. Dem Regisseur zufolge „gibt es nichts Schlimmeres als Filme, die diese Krankheiten benützen, um sich lustig zu machen.“ Er will jedoch nicht pathologisch über psychische Behinderungen aufklären, was eigentlich nur die Medizin zu tun vermag. Wie schon erwähnt lassen sie sich auch auf soziale Verhältnisse zurückführen, was hier auf der Leinwand dargestellt wird. Dieser Zusammenhang von Gesellschaft und Mentalität konzentriert sich auf den Vater- Sohn-Konflikt.
Mit dem Tod seiner Mutter verliert Vincent seine einzige Bezugsperson. Seitdem wendet er allen anderen sozialen Kontakten den Rücken zu. Sein Vater Robert wendet sich hingegen als Lokalpolitiker schmeichelnd allen Wählern zu. Er benimmt sich in diesem Sinne zweckorientiert, was für Vincent sozusagen Gesellschaft ausmacht. Der Vater nennt seinen Sohn einfach “Du Null”, weil der Sohn in der Gesellschaft des Vaters nichts bedeutet. Dieser bildet im menschlichen Umgang einen starken Gegensatz zu jenem, während beide in gleicher Weise zu niemandem Vertrauen haben. Auf der Reise nach Italien werden sie jedoch allmählich dazu therapiert, Anderssein zu akzeptieren. Der Vater und der Sohn begegnen sich schließlich erst am Meer, ohne dass eine Rangordnung der Gesellschaft zwischen ihnen besteht. Der Titelheld macht darauf in Italien den ersten Schritt zum Kontakt mit seinen Mitmenschen mit dem Wort “unter Leute”, was auf eine neue Gesellschaftsform hoffen läßt.