„Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt“ erklärt Mephistopheles Faust in der Szene „Studierzimmer“ in Goethes „Faust I“. Wenn man diese Aussage im Kontext der Szene liest, bedeutet sie, dass Faust sich auf der Erde Mephistos Zauberkraft ohne Einschränkung bedienen kann. Aber gilt Maßlosigkeit als Prinzip nur für Faust?
In der Szene „Walpurgisnacht“ in „Faust I“ zweifelt ein Autor, „Wer mag wohl überhaupt jetzt eine Schrift / Von mäßig klugem Inhalt lesen!“ „Mäßig“ bedeutet hier „angemessen“. Er klagt also hier, dass die Französische Revolution die bisherige Klassengesellschaft zerstört habe und danach alles in der Welt konfus geworden sei. Die Menschen haben das Interesse an „Maß“, an Angemessenheit und Ordnung, verloren. Auch in den Szenen „Saal des Thrones“ und „Lustgarten“ im 1. Akt von „Faust II“ geht es in zweifacher Weise um Maßlosigkeit. Faust sagt hier zum Kaiser, „Das Übermaß der Schätze, das, erstarrt, / In deinen Landen tief im Boden harrt, / Liegt ungenutzt.“ Schon schlug Mephisto auch vor, dass der Kaiser, da er übermäßig reich ist, viel Geld ausgeben soll. In der späteren Szene „Lustgarten“ wird klar, dass die Wirtschaft sich günstig entwickelt hat und die Untertanen viel Lohn bekommen haben, um sich ihre Begierden zu erfüllen. Hier ist ganz deutlich dargestellt, dass die Geldwirtschaft Begierden der Menschen ohne Maß reizt. Dieses Motiv findet sich auch im 4. Akt von „Faust II“. Ein weiteres Beispiel ist die Szene „Mitternacht“ im 5. Akt von „Faust II“. Dort sagt die „Sorge“, die als Frau auftritt, „Die Menschen sind im ganzen Leben blind.“ Hier steht Blindheit, wie Maßlosigkeit, für die Orientierungslosigkeit der Menschen. Maßlosigkeit als Ausdruck einer erschütterten Weltordnung ist ein Grundgedanke, der sich konsequent durch das Drama zieht.
Bereits im „Prolog im Himmel“ sagt Mephisto, dass der Mensch das Himmelslicht, das Gott ihm gegeben hat, „Vernunft“ nennt, und „braucht's allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ Diese Aussage weist schon zu Beginn des Dramas darauf hin, dass der Mensch im Konflikt zwischen Vernunft und Trieb sein rechtes Maß nicht findet.
Die auf „Maß“ bezogenen Textstellen zeigen also, dass nicht nur Faust maßlos seinen Wünschen nachgehen kann, sondern dass die Menschen in der damaligen Zeit in allen Lebensbereichen unter großen Veränderungen standen. Sie lebten schwankend
wandernd auf der Suche nach neuen Maßen und neuen Lebensweisen.