„Der Tod in Venedig" schildert den Untergang eines zu Würde und Ansehen gelangten Schriftstellers, Gustav von Aschenbach. Er legt großes Gewicht auf bürgerliche Moral und Haltung, und hat damit den Zwiespalt zwischen Künstlertum und Bürgertum in sich vereinigt, aber, schon der Selbstzucht müde, ergibt er sich in Venedig der Liebe zu einem schönen Knaben Tadzio und stirbt, ihn sehend, am Strand. Sein Verfall ist die Niederlage des Geistes und zeigt, wie stark der ästhetizistische Drang dem Menschen innewohnt.
Wir müssen aber das Dionysische beachten, das in der Erzählung allmählich überwältigend durchdringt. Am Anfang träumt Aschenbach, von Reiselust ergriffen, von einer Urweltwildnis im tropischen Sumpfgebiet, später, in einer Nacht in Venedig, hat er den furchtbaren Traum vom Dionysoskult, und am Ende leitet Tadzio, ein Bote des Todes, die Seele des sterbenden Aschenbach ins Meer. Das Meer bedeutet nach Thomas Mann das der Erscheinungswelt zugrunde liegende Elementare. In dieser Hinsicht ist Aschenbachs Tod positiv zu deuten, denn das Elementare soll eigentlich der Urgrund sein, aus dem das Leben erzeugt wird. Es ist also nicht nur der Abgrund des Todes, sondern auch der Ursprung des Lebens. Das Dionysische im „Tod in Venedig" deutet ein über den Tod gelangtes neues Leben an.