In der vorliegenden Arbeit wird versucht, Thomas Manns Dichtung unter dem Aspekt der Überwindung des Ästhetizismus zu interpretieren. Unter dem Begriff "Ästhetizismus" verstehen wir nicht die literarische Strömung im 19. Jahrhundert, als deren Vertreter Baudelaire, Gautier, Pater und Oscar Wilde genannt werden können, sondern im weiteren Sinne eine Lebens— und Weltanschauung, die im Schönen den höchsten Wert sieht.
Nach Thomas Mann verbirgt sich in allem Menschlichen die Neigung zum Ästhetizismus: selbst der sogenannte Leistungsethiker, der Moral des Bürgertums verpflichtet emsig arbeitend, leidet unter dem ihm innewohnenden Drang, aus Haltung und Lebenszucht zu fliehen. In Thomas Manns frühen Werken, besonders im "Tod in Venedig", wird dargestellt, wie stark der Mensch vom Schönen angezogen wird. Der berühmte Schriftsteller Gustav von Aschenbach, ein Mann von Selbstbeherrschung, ergibt sich der Liebe zu einem schönen Jungen und findet in der Stadt der Kunst seinen Tod. Das Meer, in das die Seele des sterbenden Aschenbach von Tadzio, einem Boten des Todes, geleitet wird, bedeutet das der Erscheinungswelt zugrunde liegende Elementare. Das Elementare soll aber eigentlich ein Urgrund sein, aus dem das Leben erzeugt wird. Wie sich der Abgrund des Todes zum Ursprung des Lebens verwandeln kann, das ist die Kernfrage bei der Überwindung des Ästhetizismus.
Der vorliegende Aufsatz ist ein Versuch, die Problematik des Ästhetizismus in den dem "Tod in Venedig" vorausgehenden Werken "Der kleine Herr Friedemann", "Buddenbrooks", "Tristan" und "Tonio Kröger" darzustellen.