„Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht", so sagt der Protagonist des „Woyzeck"(H2-8). Sicherlich kann man irgend eine innere unbegreifliche dunkle Welt spüren, wenn man ,,Woyzeck" und „Lenz" liest. Aber wie soll man diese zwei Werke interpretieren?
Seit langem haben so viele Forscher versucht, von den verschiedensten Aspekten aus diese Werke gründlich und originell auszulegen. Hier werden nun im folgenden die wichtigen epochemachenden Interpretationen, die auf die Büchner-Forschung entscheidende Einflüsse ausgeübt haben, historisch und kritisch vorgestellt, um die Position meiner früher veröffentlichten ',Studien zu Georg Büchner(1)-(3): 1994-97" in der Forschungsgeschichte klar darzustellen.
1) Die Debatte zwischen Lukäcs und Viëtor.
2) Die sozio-historischen Forschungen (H. Mayer, Poschmann, A. Meier usw.)
3) Die existentialen Forschungen(Kobel, Wittkowski usw.)
4) Die stilistischen Forschungen(Hinderer, Thierberger usw.)
5) Die gegenwärtigen Forschungen, besonders die an der Universität Marburg(Th. M. Mayer, Dedner, Gersch, Glück usw.)
Bei der kritischen Betrachtung der Forschungsgeschichte handelt es sich immer um folgendes:
1) Ob man die damaligen heftigen medizinischen und gerichtlichen Debatten über die Zurechnungsfähigkeit des geistesgestörten Mörders in Betracht zieht.
Denn das Thema von „Woyzeck" war damals (in den zweiten und dritten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts) sehr aktuell, weil man in dieser Zeit darüber nachdachte, wie man den geistig kranken Mörder richten soll; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich war das eine große soziale Frage. Büchner, als Arzt, hatte ein fachliches Interesse daran, und er hatte viel über die neue französische Medizin gelernt, besonders die von Esquiror, einer der damaligen größten französischen Ärtzte, der den Mörder vor Gericht mit seiner Geistesstörung entschuldigte. Diese Seite muß man als einen wichtigen sozial-historischen Hintergrund betrachten.
2) Ob man die Sprache, d.h. den Gebrauch von Worten in,,Woyzeck" und in „Lenz" intensiv beachtet.
Besonders in „Woyzeck" treffen nämlich gegensätzliche aufeinanderprallende Diskurse zusammen: Einer ist der rationale und strategische Diskurs, mit dem man den Gesprächspartner von seiner eigenen Meinung überzeugen will; den kann man als Ausdruck des Machtwillens oder Machtsystems vestehen. Der andere ist der Diskurs des historischen Mörders Woyzeck. Seine Worte werden als ein gerichtsmedizinischer Bericht im Gutachten sehr korrekt aufgeschrieben; sie sind zwar weder logisch noch objektiv, aber seine Worte — z. B. "es" oder „was"— drücken eine Geschichte so direkt und so konkret aus, wie sie in der Wirklichkeit passiert ist.
Solche Worte beruhen nicht auf Woyzecks Verstand, sondern stets auf seinem subjektiven „elementarischen Sinn", wie ihn der Held in „Lenz" mit dem Gesprächspartner Oberlin sehr ausführlich bespricht. Und wenn man diesen Sinn beachtet, kann man sowohl in „Woyzeck" als auch in „Lenz" eine vom Anfang bis zum Ende linear durchgehende Handlung finden, die nur durch diesen „elementarischen Sinn" des Helden konstruiert wird. (Diese Handlungen werden in meinen „Studien zu Georg Büchner(1)-(3)" deutlich gezeigt.)