Im Film Das Experiment von Oliver Hirschbiegel geht es um die dramatische Geschichte eines sozialpsychologischen Experiments, das im Keller einer Universität stattfindet. Der Taxifahrer Tarek Fahd wird eines Nachts auf eine Zeitungsanzeige aufmerksam, während er auf Kundschaft wartet. Darin werden gegen Bezahlung von 4000 Mark Versuchspersonen für ein 14-tägiges Projekt gesucht, das Verhaltensweisen von Wärtern und Häftlingen in einem simulierten Gefängnis ergründen will. Nicht in erster Linie wegen der Entlohnung interessiert sich Tarek hierfür, sondern er verspricht sich davon als ehemaliger Journalist eine gute Story. Nach einer Besprechung mit seinem ehemaligen Chefredakteur beschafft er sich eine Spezialbrille, in die eine getarnte Kamera eingebaut ist, und schleust sich als Versuchsperson in das Scheingefängnis ein. An dem Forschungsprojekt nehmen 21 männliche Freiwillige, einer davon Tarek, teil, die alle physisch, psychisch und intellektuell von der Versuchsleitung durchgetestet und in jeder Hinsicht als durchschnittlich nachgewiesen wurden. Sie werden zudem nach dem Zufallsprinzip in 12 Wärter und 9 Gefangene eingeteilt. Am Anfang des Experiments kann es deshalb an der Mentalität der Versuchspersonen in den beiden Gruppen keinen Unterschied geben. Trotzdem verhalten sie sich schon kurze Zeit nach Beginn des Experiments richtiggehend rollenkonform, indem sie sich als Befehlsgeber und -empfänger gerieren. Es liegt ja auch nahe: In der Gefängnissituation, wo nur vereinfachte Verhaltenstypen wie die von Herrscher und Untertan gelten dürfen, verstärkte sich wohl der Ansatz zur Kommando-Beziehung, der sich im demokratisch verfassten Alltag versteckt hält. Der Verlauf bis dahin entsprach aber genau den Erwartungen der Versuchsleitung. Doch schon bald setzt sich eine Spirale der Gewalt in Gang: In Abwesenheit des Professors, der für das Projekt verantwortlich zeichnet, ergreifen die Wärter die Macht über die Unterwelt. Das Experiment entgleitet dann den Wissenschaftlern und verwandelt sich in einen Kampf beider Gruppen auf Leben und Tod. Mit dieser spannenden Story stellt das Filmwerk für die meisten Rezensenten allenfalls einen erstklassigen Psycho-Thriller dar. Kann darüber hinaus das Kellerinstitut in der hierarchischen Denkweise die Problematik der Moderne veranschaulichen? Die Gefangenen müssen sich hier unter dem Herrschaftsblick von Wärtern zur Dingqualität herabsetzen. Ihnen wird zum Beispiel die Ansprache mit dem eigenen Namen nicht zugebilligt, sondern sie werden nur durch eine Nummer individualisiert, die auf ihrem groben Leinenkittel aufgedruckt ist. Sie müssen also nach Gefängnisregel mit ihrer Nummer angeredet werden, damit ihre präexperimentelle Persönlichkeit auszusetzen ist. Der Lebensraum ist hier restlos mit Plastikwänden umgeben und obendrein rund um die Uhr videoüberwacht. In diesem Psycholabor sind die Gefängnisinsassen sozusagen fast als Probematerial im Reagenzglas verschlossen. Ist hier vielleicht ein Modell der Moderne mit ihrer rationalen Denkweise zu beobachten, die ihre Umgebung wissenschaftlich präzis kontrollieren will? Das Sozialexperiment der Moderne, zum Beispiel der Sozialismus, musste aber bekanntermaßen so wie im Film misslingen. Die Fernseh-Reporterin berichtet in der vorletzten Sequenz: „Nach Angaben der beteiligten Wissenschaftlerin hätte die Eskalation durch den rechtzeitigen Abbruch des Experiments möglicherweise verhindert werden können“. Trifft es auch auf die Moderne zu, im Verlauf derer Sozialexperimente erhebliche Verluste zu beklagen sind? Im Film wird jedoch noch eine Möglichkeit der Moderne anhand der Frauenfigur Dora angedeutet, die Tarek in der letzten Nacht vor Beginn des Experiments kennen lernt. Die befreiende Fantasiereise zu ihr stellt für ihn einen stärkenden Zufluchtsort zum Widerstand in der Extremsituation dar. In seinem Fluchttraum ist Dora sinnbildlich mit Möwen am Strand identisch. Die Seevögel schweben dabei ungebunden in der Luft, was eine nicht auf irgendeine Dingqualität reduzierte Vielfalt der Welt verkörpert. Das Verhältnis der Möwen zu ihrer Umgebung signalisiert uns wohl die andere Möglichkeit der Moderne, in der sich Menschen mit Menschen und Natur versöhnen können.